Angst macht Typen

– Die Grundformen der Angst, skizziert von Josef W. Seifert:

Um Menschen, über ihr Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit hinaus, in ihrer ganz persönlichen Art die Welt zu sehen, zu empfinden und zu gestalten, verstehen zu können, ist die Typologie von Fritz Riemann sehr hilfreich. Dies besonders deshalb, weil sie mit nur vier Dimensionen auskommt und so ein pragmatisches Beobachtungsraster bereitstellt.

Riemann nimmt als Kondensationskern für seine Persönlichkeitstypologie den Umgang mit der Angst, den jeder Mensch lernen muss. Angst ist ein Gefühl, das der Mensch zum Überleben braucht. Er muss Gefahren als solche erkennen und durch (Flucht oder Verteidigung) darauf regieren. Fritz Riemann teilt die Angst – die vom Menschsein nicht zu trennen ist – in vier „Grundformen der Angst“ ein. Dabei stehen sich immer zwei Grundformen gegenüber und bilden je ein Kontinuum, zu den Dimensionen „Raum“ und „Zeit“:

 

 

Grundformen der Angst

Dimension Raum: Jeder Mensch hat den Wunsch nach Nähe und Geborgenheit, nach körperlicher und seelischer Sicherheit. Jeder strebt danach, gesehen zu werden, anerkannt und angenommen zu werden, dazuzugehören. Doch wie nah ist nah genug? Im Idealfall, sind wir mit dem andern eins, wie Mutter und Kind. Das ist selbst Liebenden nicht möglich – jeder ist ein Individuum und jeder bleibt „allein“. Der Wunsch nach Nähe erzeugt natürlich die Angst vor Distanz, vor Abstand, vor Alleinsein, ohne Hilfe und Unterstützung, schutzlos auf sich allein gestellt zu sein. Nicht gemocht zu werden, nicht akzeptiert und angenommen zu werden, von seiner sozialen Umwelt getrennt und sozial isoliert zu werden.

Aber auch das Gegenteil ist richtig: Jeder Mensch hat den Wunsch nach Distanz, nach Autonomie. Jeder würde gerne – im Idealfalle, ohne auf irgendetwas Rücksicht nehmen zu müssen – tun und lassen, was ihm gefällt. Sich keinen Ansprüchen anderer stellen zu müssen, keine Kompromisse machen müssen. „Frei“ zu sein, das ist etwas, was in jedem Menschen angelegt ist. Der Wunsch nach Autonomie aber erzeugt die Angst davor, Freiräume einzubüßen, von anderen vereinnahmt zu werden, fremdbestimmt und vielleicht sogar übervorteilt zu werden, im Leben mit seinen Bedürfnissen „zu kurz“ zu kommen.

Jeder Mensch kennt diese Strebungen und die damit einhergehenden Ängste. Der eine mehr von der einen Art, die andere mehr von der andern. Jeder entwickelt seine Art damit umzugehen. Jeder muss die für sich richtige Balance zwischen Nähe und Distanz finden.

Dimension Zeit: Jeder Mensch hat den Wunsch nach Entdeckungen und Neuem, nach Abwechslung und Abenteuer. Die Welt soll bunt sein und interessant, Überraschungen bereithalten, Angebote machen, immer wieder den Reiz des Neuen bieten. Das Leben soll ein Feuerwerk an Interessantem sein, ein Markt für Erfahrungen, für Anregungen und Lustgewinn. Der Wunsch nach Wandel ist verbunden mit der Angst vor Einerlei und Langeweile, vor Stillstand, Wiederholung und Rückschritt, vor Normen, Routinen und Standards.

Aber auch das Gegenteil gilt: Jeder Mensch hat den Wunsch nach Ruhe und Erholung, nach Beständigkeit und Vertrautem. Jeder wünscht sich Überschaubarkeit und Vorhersagbarkeit, Zuverlässigkeit und Sicherheit. Alles soll so bleiben, wie es ist, dann hat man alles leichter im Griff. Man will vor „unliebsamen Überraschungen“ sicher sein und wissen, was auf einen zu kommt. Bekanntes Gelände ist leichter zu bewältigen, als unbekanntes, neues. Das Rad nicht jedes Mal neu erfinden zu müssen, erleichtert das Leben sehr. Gesetzte, Vorschriften, Routinen, Normen bewahren einen vor ständiger Überforderung.

Jeder Mensch kennt diese Sehnsüchte und die damit einhergehenden Ängste. Jeder auf seine individuelle Art. Jeder entwickelt seine ganz spezifische Art damit umzugehen. Jeder muss die für sich richtige Balance zwischen Wandel und Dauer finden.

Menschentypen

Wir können davon ausgehen, dass jeder Mensch jede der skizzierten Angstformen aus eigenem Erleben kennt. Jeder Mensch wird dabei – je nach seinem individuellen Gewordensein – die eine oder andere Grundform stärker kennen als die anderen Formen. Und: Jeder wird sich in „Zeit“ und „Raum“ seinen Platz auf der Skala gesucht haben.

Weil das so ist, kann man (in Anlehnung an Riemann) auch von vier Menschen“typen“ sprechen: dem „Nähetyp“, dem „Distanztyp“, dem „Wandeltyp“ und dem „Dauertyp“, wie dies die Abbildung oben zeigt. In anderem Zusammenhang werden diese Strebungen auch als „Manager“ (Distanz), „Broker“ (Nähe), „Creator“ (Wandel) und „Owner“ (Dauer) bezeichnet, um die Stärken unterschiedlicher Persönlichkeitsausprägungen zu verdeutlichen. Aber Achtung, die Reinform gibt es nicht. Jeder Mensch ist – mehr oder weniger – jeder „Typ“! Jeder wird lediglich sowohl auf der Raumachse als auch auf der Zeitachse (ein bisschen) mehr der eine als der andere Typ sein. Dies allerdings wird sein Leben, seinen Charakter, ganz zentral (mit)bestimmen.

Die Moral von der Geschicht‘

Wenn wir einander verstehen wollen, geht das nur indem wir uns einerseits bewusst sind, dass Menschen (fast) alles tun, um dazugehören zu dürfen und andererseits jeder einen indivuduellen Bezugspunkt hat die Welt zu sehen, zu fühlen, zu erleben und nur aus dieser Position heraus argumentieren und handeln kann. Jeder kann Dinge nur aus der eigenen subjektiven „Mitte“ heraus für richtig oder falsch halten, für wahr oder unwahr, Menschen zum jeweiligen Thema und auch emotional näher sein als anderen.

Wenn wir anerkennen, dass das so ist und bereit sind, herauszufinden wo sich der andere „verortet“ hat, aus welcher Position heraus er oder sie argumentiert um schließlich sagen zu können: „Dass Du das so siehts, versteh ich gut.“, dann können wir – immer wieder neu – den Spagat hinbekommen, einander zu verstehen und vielleicht eine gemeinsamne dritte Position zu finden.

Wenn wir anerkennen, dass das so ist und bereit sind, herauszufinden wo sich der andere „verortet“ hat, aus welcher Position heraus er oder sie argumentiert um schließlich sagen zu können: „Dass Du das so siehts, versteh ich gut.“, dann können wir – immer wieder neu – den Spagat hinbekommen, einander zu verstehen… Dieses Verstehen kann dann die Basis für wahre Begegnung und ein nährendes Miteinander.

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Auszug aus: Seifert, Josef W. – „Konfliktmoderation“ – Gabal Verlag, Offenbach

Bestandteil der Ausbildung: MODERATIO KonfliktModerator:in (MKM)


© MODERATIO 2024

Jeder besitzt ein Schneckenhaus

Ein Beitrag von Josef W. Seifert –

In der Konfliktmoderation bekommen wir es einerseits damit zu tun, dass nun mal jeder „seine Art“ hat und der andere oft nicht verstehen – und vor allem nicht nachfühlen – kann, wieso der eine sich so und nicht anders verhält; aus welchem Grund jemandem dieses oder jenes so wichtig ist, wie der andere „tickt“. Und andererseits auch damit, dass „rote Knöpfe“ gedrückt wurden. Im folgenden möchte ich einige Gedanken hierzu anbieten und dazu ermutigen, im Beratungsprozess zur Konfliktklärung, nicht an der Oberfläche zu bleiben…

Samuel Widmer´s Kern-Schalen-Modell

Der Mensch kommt als absolut unschuldiges, lebensbejahendes, völlig schutzloses, auf Überleben programmiertes Wesen auf die Welt. Er braucht von Anfang an Nahrung und Pflege, Wärme und Zuwendung kurz: „die Andern“. Im Laufe des Heranwachsens erlebt der kleine Mensch, dass diese andern, in der Regel die Eltern, ganz im Gegensatz zu ihm selbst, scheinbar „alles können“, „alles wissen“ und „alles dürfen“. Er erlebt sich selbst zwangsläufig als klein und abhängig, wenig/er potent und weniger wert.

Dieses Erleben des eigenen Unvermögens, der eigenen „Minderwertigkeit“ und der Abhängigkeit vom Wohlwollen der andern gräbt sich so tief in sein Gedächtnis und in seine Seele, dass es nie mehr völlig verblassen wird. Je nach persönlicher Situation und individueller Verarbeitung, bleibt ein mehr oder weniger tiefes, diffuses Minderwertgefühl und Wissen um die Abhängigkeit von „den Andern“. Alfred Adler spricht in diesem Zusammenhang davon, dass der erwachsene Mensch zudem seine Bedeutungslosigkeit im kosmischen Zusammenhang begreift, seine Kleinheit, Begrenztheit und Ohnmacht und dieses Wissen das Minderwertgefühl verstärkt. Zur Kompensation streben wir danach, einen „sicheren Platz“ im Leben zu erreichen und zu wissen, dass wir für lebenswert und liebenswert gehalten werden, dass wir „dazu gehören“ und uns „nichts mehr passieren“ kann, was freilich eine Fiktion bleiben muss.

Erschwerend kommt hinzu dass, wie umsichtig und wohlwollend Eltern, Erzieher, Lehrer, Freunde usw. auch immer sein mögen, wie intensiv das Bemühen um Zuwendung und Wertschätzung auch ausfällt, niemand vor Geboten und Verboten, Beschränkungen und Strafen, Ungerechtigkeit und Ohnmacht bewahrt werden kann.

Jeder Mensch wird im Laufe des Erwachsenwerdens Misserfolg, Zurückweisung, Enttäuschung, Einsamkeit und Schmerz erleben und Verletzungen der Seele zurückbehalten, die dann zum einen Teil „vernarben“ und zum andern Teil „sensible Stellen“ bleiben. Zum Teil werden diese Ereignisse vergessen, zum Teil verdrängt, zum Teil ein Leben lang erinnert.

Wir speichern aber nicht nur den Schmerz ab, den wir in der entsprechenden Situation erleiden mussten, sondern auch den Kontext, das Ganze „Drumherum“. Vielleicht den Ort, das Wetter, den Geruch, die Stimmen, Geräusche, die Stimmung. Das führt dazu, dass alte Gefühle auch dadurch wachgerufen werden können, dass wir an etwas erinnert werden, das wir im Zusammenhang abgespeichert haben. Man kann sich das vorstellen, wie den „Bohnerwachseffekt“. Man betritt einen Raum und es riecht nach Bohnerwachs: Schlagartig wird die Erinnerung wach, die wir damit verknüpfen. Man steht plötzlich im Klassenzimmer der Grundschule … Einen ähnlichen Effekt können Geräusche, Gesten, Worte haben.

Jeder von uns hat solche „Erinnerungsknöpfe“ die, einmal gedrückt, in Sekundenbruchteilen die Gefühlswelt einer vergangenen Zeit auferstehen lassen. Und es gibt neben den goldenen Knöpfen, die an gute Erinnerungen anknüpfen, eben auch rote Knöpfe, auf die niemand drücken darf, weil dadurch der alte Schmerz in Erinnerung gerufen würde.

Davor, dass jemand so einen roten „Weh-Knopf“ drückt, versuchen wir uns dadurch zu schützen, dass wir „Sicherungsschichten“ darum aufbauen. Wir tragen quasi einen hautengen, hautfarbenen Schutzanzug, der den anderen gar nicht auffällt und sie glauben lässt, sie würden uns ganz echt und authentisch sehen, ganz so, wie wir sind. In Wirklichkeit sehen sie nur das, was wir glauben zeigen zu sollen und nur das, was wir zeigen wollen (Anpassung). Von außen sieht man nur diese „öffentliche Person“. Unter diesem Schutzanzug tragen wir – für den Fall, dass uns jemand zu nahe kommt – ein Kettenhemd (Abwehr). Erst darunter liegt unsere empfindsame echte Haut (Schmerz) mit ihren Kratzern und Narben, die nicht berührt werden sollen. Diese wirkliche Haut umgibt und schützt das Innerste, unseren weichen Kern.

Wenn jemand sagt: „Das hat mich bis ins Mark getroffen!“, so meint er damit, das hat mein Innerstes berührt, das hat mich durch mehrere Schichten hindurch, tief verletzt, das hat meinen Kern getroffen.

Das hat meine Anpassungsschicht durchschlagen, meine Abwehr überwunden und meine, den Wesenskern umgebende Schmerzschicht erreicht.

Die Schichten kurz und bündig

Anpassungsschicht
Die äußerste Schicht ist die Alltagsschicht. Wir zeigen uns auf unsere individuelle Weise, mit den für uns typischen Charaktereigenschaften, die jeder sehen kann. Wir zeigen die Verhaltensweisen, mit denen wir erfahrungsgemäß gut durchs Leben kommen.

Abwehrschicht
Wir aktivieren Abwehrgefühle, wenn die Gefahr droht, dass jemand einen roten Knopf drückt oder jemand versehentlich einen gedrückt hat. Wir schützen uns durch Unverständnis, Überheblichkeit, Wut, Empörung, Anklagen usw. davor, jemanden zu nah an uns heranzulassen, weil Nähe immer auch Verletzlichkeit bedeutet. Im Konflikt agieren wir mit unserem Verhaltensrepertoire aus dieser Schicht.

Wehschicht
Hier sind die Verletzungen, die seelischen Kratzer, Narben und Wunden, von denen schon die Rede war, versteckt. Wir versuchen sie zu schützen, so gut es geht. Die „alten Sachen“ sollen möglichst nicht wieder hochkommen, nicht wieder (voll) bewusst und vor allem nicht noch einmal gespürt werden müssen.

Kern
Im Kern ist „das Auge des Orkans“, hier ist es ganz still, absolute Ruhe. Kein Argwohn, kein Neid, keine Angst. Ein Raum, den man nur für kurze Zeit betreten kann, vielleicht in einem Moment tiefster Entspannung, wenn man ganz „im Flow“ ist oder im tiefsten Glück, in Momenten der Erleuchtung.

 

Abb. – „Kern-Schalen-Modell“ nach Samuel Widmer

 

Konfliktmoderation

Im Konfliktdialog geht es prinzipiell darum, die „Hidden Feelings“, die verdeckten, verletzten Gefühle aufzudecken und besprechbar zu machen, die dem Konflikt Nahrung geben. Diese liegen in der Schmerzschicht und sind nicht offensichtlich.

Was die Konfliktparteien freiwillig zeigen, ist die angepasste „Alltagsschicht“ oder die aggressive „Abwehrschicht“, nicht aber die verletzen Stellen. Sie wehren sich dagegen, den Schmerz zuzulassen, indem sie um den Konflikt herum reden: „Nein nein, wir kommen im Prinzip schon ganz gut klar.“ (Anpassung) oder den andern anklagen: „Nein, mit Dir kann man nicht klar kommen, keiner kommt länger mit Dir aus!“ (Abwehr).

Diese Äußerungen sind „Türsteher der Schmerzschicht“, abwehrende Gefühle, die verhindern sollen, dass wir die Gefühle, die wir nicht haben wollen, nämlich die Schmerzen, spüren. Abwehrende Gefühle, wie Wut, Enttäuschung, Verachtung, geben dem einen Schuld und sprechen den anderen frei. Sie schaffen Ungleichheit und Distanz und entlasten den Sprecher vordergründig. Da sie aber verhindern, dass der Schmerz ausgesprochen und gefühlt wird, da er nicht offengelegt wird, kann er auch nicht bearbeitet werden.

In der Rolle des Moderators in der Konfliktklärung muss man sich klar darüber sein, dass aggressives Verhalten, wie etwa Ausweichen, Sarkasmus und Wut aus der Abwehrschicht kommen. Jemand hat bei einem anderen (wiederholt?) einen „roten Knopf gedrückt“ oder jemand hat Angst, dass bei ihm eine „sensible Stelle“ berührt werden könnte. Hat man das Gefühl, dass „Abwehr-Ping-pong“ gespielt wird und die Menschen es nicht schaffen, über ihre verletzen Gefühle zu sprechen, kann und sollte man dies über die Kommunikations- und Moderationstechniken „Fragen“, „Zuhören“, „Feedback“ und „Doubeln“ ansprechen und den Kontrahenten Gelegenheit geben, tiefer zu kommen.

Im Kern geht es letztlich immer darum, nicht für liebenswert – oder gar lebenswert – erachtet worden zu sein. Es geht um „die Würde des Menschen“. Die Verletzungen dieses „letzten Prinzips“ können sehr leicht sein, aber auch krass und sie können durch direkte Einwirkung aber auch dadurch entstanden sein, dass jemand (versehentlich) einen „roten Knopf“ gedrückt hat.

Der Weg dorthin führt über Formulierungen, die der Moderator einsetzen kann, wie: Ich fühle mich nicht gesehen, nicht geliebt, nicht gewürdigt, missverstanden, hängen gelassen, ungerecht behandelt, ausgestoßen, gedrängt, ausgegrenzt, ausgenutzt, verachtet, verletzt, beschämt, nicht gesehen, nicht gewürdigt, ohne Kontakt zu Dir.

Dabei geht es in der Konfliktklärung nicht darum zu ergründen, wieso jemand an dieser oder jener Stelle einen „roten Knopf“ hat, das wäre therapeutische Arbeit, sondern einzig darum, Verletzungen aufzudecken, besprechbar zu machen und wenn möglich, einen adäquaten Umgang damit zu (er)finden. Was im Einzelfall besprochen werden kann und besprochen werden soll, entscheiden die Betroffenen immer eigenverantwortlich für sich. Jeder besitzt ein Schneckenhaus und dahin muss er sich auch zurückziehen dürfen und Vorsicht: vielleicht hat es ja einen roten Klingelknopf…

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© Auszug aus: Seifert, Josef W. – „Konfliktmoderation“ – Gabal Verlag, Offenbach


PS: Die Ausbildung zum Buch: http://MKM.moderatio.com

Die Sache mit dem Selbstwert

Es scheint ein Bedürfnis zu geben, das Abraham Maslow in seiner Bedürfnispyramide zu erwähnen vergessen hat, ein Bedürfnis nach „Ich-lass-die-anderen-alt-aussehen“. Und: Dieses Bestreben hat nach oben keine Grenze. Je weiter die anderen zurückbleiben, desto besser, je größer der Abstand, desto überlegener fühlt sich der, der „oben“ ist. Das gilt freilich für den einen mehr und für die anderen weniger doch jeder kennt dieses Gefühl. Der kleine Bruder dieses Bedürfnisses, dem wir in jeder Moderation begegnen, ist das „recht haben müssen“. Bleibt die Frage, wozu das gut sein soll: Wieso eigentlich geben wir uns so viel Mühe andere zu beeindrucken? Wieso wollen wir recht haben? Woher kommt das? Eine individualpsychologische Erklärung:

Der Mensch kommt als absolut unschuldiges, lebensbejahendes, völlig schutzloses, auf Überleben programmiertes Wesen auf die Welt. Er braucht von Anfang an Nahrung und Pflege, Wärme und Zuwendung kurz: „die Andern“. Im Laufe des Heranwachsens erlebt der kleine Mensch, dass diese andern, in der Regel die Eltern, ganz im Gegensatz zu ihm selbst, scheinbar „alles können“, „alles wissen“ und „alles dürfen“. Er erlebt sich selbst zwangsläufig als klein und abhängig, wenig/er potent und wenig/er wert. Dieses Erleben des eigenen Unvermögens, der eigenen „Minderwertigkeit“ und der Abhängigkeit vom Wohlwollen der andern gräbt sich so tief in sein Gedächtnis und in seine Seele, dass es nie mehr völlig verblassen wird.

Ganz im Gegenteil, der Mensch wird lebenslang „erzogen“. Zeigen ihm zunächst die Eltern was er noch nicht (gut genug) kann und in welcher Hinsicht er noch nicht genügt, verstärken dieses Gefühl der Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit die Erzieher und Lehrer, die Vorgesetzten und Chefs… Die Werbung tut ihr übriges, indem sie den Menschen erklärt, was sie alles machen und haben müssen, um „richtig“ zu sein… die Medien präsentieren im Dauerfeuer Vorbilder, die vermeintlich alles richtig machen und zum Maßstab werden, für das was man können und haben sollte, um liebenswert zu sein: Schneller, höher, weiter… und der einzelne bleibt zwangsläufig immer hinter den hochstilisierten Ansprüchen zurück…

Wieso aber werden wir lebenslang auf vermeintliche Defizite, auf Schwächen und Fehler hingewiesen und dadurch geschwächt? Wieso werden nicht unsere Stärken anerkannt und dick gelobt? Wieso stärken wir einander nicht, anstatt uns zu schwächen? Es möchte doch jeder gesehen, anerkannt, gelobt werden.

Das Problem an der Sache ist, dass das Ganze ein Vicious Circle, ein Teufelskreis ist: Nur wer hat, kann geben. Da wir, wie oben skizziert, von Kindesbeinen an, – der eine mehr, die andere weniger – mit Anerkennung chronisch unterversorgt sind, sind wir mit unserem Selbstwertkonto im Minus. Dadurch entsteht letztendlich das Dilemma dass alle, die auf Defizite hinweisen, davon profitieren. Kritik stellt einen Unterschied her, der eine hat recht, die andere nicht. Sich im Recht zu wähnen, erzeugt ein Gefühl von Überlegenheit, jede Kritik, ist sozusagen „Futter“ für das eigene Selbstwertgefühl. Je weniger Bestätigung jemand außen bekommt, desto entschiedener wird dessen Kritik an anderen.

In einem Gespräch, einer Auseinandersetzung, einer Diskussion Recht zu bekommen hat daher einen hohen Belohnungswert. Das gilt natürlich auch im Rahmen eines Meetings, eines Workshops oder einer Online-Diskussion.

Als Moderatorin, Facilitator oder Leiter eines Gruppendialogs ist man deshalb gut beraten, neben der inhaltlichen Sachebene, auch die emotionale Beziehungsebene dahingehend „auf dem Radar“ zu haben, dass man sich fragt, ob jemand der (sehr) emotional und/oder kompromisslos argumentiert, gerade einen „Selbstwert-Sieg“ braucht. Es geht also darum zu erkennen, ob jemand gerade Recht bekommen „muss“, weil das Selbstwertkonto sonst zu sehr ins Minus rutscht.

Hat der Moderator diesen Eindruck, kann er etwa das Selbstwertkonto dadurch bedienen, dass er die Argumentation, den geäußerten Gedankengang, das Einbringen der Perspektive und/oder das große Engagement, explizit anerkennt – und so auf das „Selbstwertkonto“ einzahlt – ohne in der Sache Stellung zu beziehen.

Gemäß dem Motto „Nur wer hat, kann geben.“, vergrößert man so, durch moderatorisches Geschick, die Chance, eine größere Offenheit in der Sache zu erreichen.

Recht haben zu wollen sollte also nicht als Dummheit, Sturheit oder Böswilligkeit gewertet werden, sondern als das was es ist nämlich, ein Versuch auf das chronisch unterversorgte „Selbstwertkonto“ einzuzahlen.

Was Peter über Paul sagt,
hat oft mehr mit Peter zu tun,
als mit Paul.

Die Grundhaltung des Moderators ist – nicht zuletzt, weil er um diese „Mechanik“ weiß – von Respekt und Wohlwollen geprägt. Die Idee ist dabei die, „ganz nebenbei“ eine Gesprächskultur der gegenseitigen Wertschätzung zu etablieren, wie sie in der Geschichte von Himmel und Hölle meisterhaft versinnbildlicht ist:

Himmel und Hölle [Quelle unbekannt]

Ein Rabbi kommt zu Gott: „Herr, ich möchte die Hölle sehen und auch den Himmel.“ – „Nimm Elia als Führer“, spricht der Schöpfer, „er wird dir beides zeigen.“ Der Prophet nimmt den Rabbi bei der Hand.

Er führt ihn in einen großen Raum. Ringsum Menschen mit langen Löffeln. In der Mitte, auf einem Feuer kochend, ein Topf mit einem köstlichen Gericht. Alle schöpfen mit ihren langen Löffeln aus dem Topf Aber die Menschen sehen mager aus, blass, elend. Kein Wunder: Ihre Löffel sind zu lang. Sie können sie nicht zum Munde führen.Das herrliche Essen ist nicht zu genießen.

Die beiden gehen hinaus: „Welch seltsamer Raum war das?“ fragt der Rabbi den Propheten. „Die Hölle“, lautet die Antwort.

Sie betreten einen zweiten Raum. Alles genau wie im ersten. Ringsum Menschen mit langen Löffeln. In der Mitte, auf einem Feuer kochend, ein Topf mit einem köstlichen Gericht. Alle schöpfen mit ihren langen Löffeln aus dem Topf.

Aber – ein Unterschied zu dem ersten Raum: Diese Menschen sehen gesund aus, gut genährt, glücklich. „Wie kommt das?“ Der Rabbi schaut genau hin. Da sieht er den Grund: Diese Menschen schieben sich die Löffel gegenseitig in den Mund. Sie geben einander zu essen.

Da weiß der Rabbi, wo er ist.

 

Ihr /Euer /Dein
josef w. seifert

© MODERATIO 2024

Der Konflikt ist rund.

Kausalität ist im sozialen Konflikt stets zirkulär. Im Streit, gleicht die Frage nach der Schuld dem Versuch, in einem Kreis den Anfang oder das Ende zu finden, aber das gibt es nicht. Wer glaubt den Anfang zu kennen, hat diesen nicht ge-funden, sondern er-funden. In streitigen Fragen bleibt immer die Frage, was zuerst war, die Henne oder das Ei, die nicht entscheidbar ist. Macht man im Konflikt einen Schuldigen aus, so ist das eine subjektive Setzung, eine Schuld-Zuweisung, ein Alibi. Der Versuch, mit Begriffen, wie „gut“ und „böse“, „richtig“ und „falsch“, „Schuld“ und „Unschuld“… zu arbeiten, ist weder klug noch zielführend.

Rolle gut und böse, richtig und falsch zu einer einzigen Kugel, wickle sie in Papier, und wirf sie weg. [nach Bankei Eitaku] 


Der einzige Weg,

der aus einem Konflikt führen kann ist der, zunächst anzuerkennen, was ist. Die schwierigste Übung dürfte dabei der Verzicht auf Wertung sein, der Verzicht darauf im Besitz der einzig legitimen Sichtweise zu sein. Anzuerkennen was ist, bedeutet auch anzuerkennen, dass die andere Seite eine Sicht auf die Dinge hat, die ganz offensichtlich – aus welchen Gründen auch immer – ebenfalls möglich ist. Es bestehen unterschiedliche Wahrnehmungen, Vermutungen, Bewertungen, Wünsche, Ziele… Erst wenn es gelingt, dies als legitim und gleich-wertig anzunehmen ohne sich innerlich dagegen aufzulehnen, kann ein zweiter Schritt gelingen.

Die Kunst besteht darin, etwas als gegeben zu akzeptieren, auch wenn man es möglicherweise gar nicht gut heißt, ohne dagegen zu opponieren. 

Ich freue mich, wenn es regnet, weil wenn ich mich nicht freue, regnet es auch. [Karl Valentin]

Ist ein Anerkennen erreicht, ist es ein Katzensprung zum Modus Vivendi, einem „erträglichen Zusammenleben“, dessen Ausformulierung man als Minimalziel einer Konfliktklärung betrachten könnte. Jetzt kann gefragt werden: Was machen wir denn nun, wenn es nun mal so ist, wie es ist? Welche Optionen haben wir? Was ist denk-bar? Was ist mach-bar?  Was wollen wir jetzt, konkret wie versuchen? Wie organisieren wir unser zukünftiges Mit-einander?

Oder, um es mit Willy Brandt zu sagen, das Ziel ist es, „über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen.“

Gut gebrüllt Löwe,

sagt Shakespeare im Sommernachtstraum und meint, leichter gesagt als getan oder: Wie soll das gehen? Wie sollen Konfliktparteien dahin kommen, das anzuerkennen was ist, obwohl sie exakt das gar nicht haben wollen? 

Im Businesskontext, konkreter im Kontext von Führung, Team-Performance und New Work, kann der Teamleiter als Moderator oder Facilitator helfen, diese „Konfliktlösungsbasis“ dadurch zu erreichen, dass er einen sehr verbreiteten Denkfehler klärt:

Der Denkfehler besteht darin, dass Menschen meist davon ausgehen dass, etwas als gegeben anzuerkennen, gleichbedeutend ist mit Zustimmung: Wenn es regnet, kann ich diese Tatsache zwar leugnen und so tun, als ob es nicht so wäre, regnen wird es trotzdem. Wenn ich anerkenne, dass es regnet, heißt das nicht, dass ich ich das auch gut finde und, um nochmal Karl Valentin zu bemühen, mich auch freue. Im Businesskontext: Wenn jemand einen anderen kritisiert weil dieser, seiner Meinung nach, Vereinbarungen nicht einhält, kann der Kritisierte anerkennen, dass der andere das so sieht, ohne ihm zuzustimmen. Wahrnehmung und Bewertung sind zwei, zeitlich auf einander folgende, Dinge. Anerkennen könnte also etwa so lauten: „Ich weiß, dass Du das so siehst, Deiner Meinung nach halte ich Vereinbarungen nicht ein. Ich sehe, dass Du das so siehst, das ist Dein gutes Recht.“ Im Idealfall vielleicht sogar mit dem Zusatz: „Ich kann verstehen, dass Du das so siehst.“

Anzuerkennen was ist, ist keine „gute Tat“, kein Eingeständnis einer Schwäche, kein Nachgeben, sondern schlicht die Anerkennung der Tatsache, dass man nicht im Besitz der Wahrheit ist.  

Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. [Heinz von Förster]


Der Konflikt ist rund.

Ein Konflikt ist ein Teufelskreis: Handlungen – aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Interpretationen geboren – ergänzen sich so, dass die Situation immer schlimmer wird. Beide Seiten sind davon überzeugt, recht zu haben. Beide Seiten re-agieren auf den jeweils anderen, die Negativspirale dreht sich…

Für professionelle Konfliktmoderation muss man daher in der Lage sein, eine „allparteiliche“ Haltung einzunehmen und, um es in einem Bild zu sagen: schwarz und weiß gleich-wertig zu behandeln. Damit dies gelingen kann, bedarf es der festen Überzeugung, dass es ‚gut‘ und ‚böse‘, ‚richtig‘ und ‚falsch‘ , ‚faktisch‘ und ‚objektiv‘, gar nicht gibt. Jede Sichtweise ist eine mögliche Sichtweise, jede Meinung ist eine gültige Meinung, jeder Beitrag ist ernst zu nehmen. Nur aus diesem Verständnis heraus, kann eine bedingungslos wohlwollende Haltung entstehen, die es den Menschen ermöglicht, sich zu öffnen und sich aufrichtig einzubringen.

„Alles kann einem Menschen genommen werden, nur eines nicht: die Wahl der eigenen Haltung in der gegebenen Situation und die Wahl der Handlung.“ [Viktor Frankl]

 

Ihr /Euer /Dein
josef w. seifert

© 2024, Josef W. Seifert, MODERATIO

… der werfe den ersten Stein

Konflikte kennt jeder. Konflikte sind alltäglich. Konflikte sind nicht vermeidbar. Was aber ist das eigentlich, ein Konflikt?

Ist eine Meinungsverschiedenheit ein Konflikt? Haben wir also, wenn wir unterschiedliche Wertvorstellungen haben, etwa darüber, wie in unserer Organisation geführt werden soll, einen Wertekonflikt? Und einen Zielkonflikt, wenn wir unterschiedlicher Auffassung darüber sind, wo wir mit unserer Organisation hin wollen? Oder einen Wegekonflikt, wenn wir uns zwar über das Ziel einig sind, nicht aber über die Strategie?

Ich meine nein, das sind Meinungsverschiedenheiten, keine Konflikte. Richtig ist, dass aus Meinungsverschiedenheiten Konflikte entstehen, und zwar immer dann, wenn die Beziehung Differenzen nicht aushält.

Ein Konflikt entsteht nicht zwangsläufig schon dann, wenn der Versuch sich auf eine gemeinsame Sichtweise darüber zu einigen, was erstrebenswert ist oder was wem zusteht etc. misslingt. Zu einem Konflikt kommt es erst, wenn emotionale Kratzer, Narben und Wunden entstehen.

Wenn wir uns nicht einig sind, wie etwas zu sehen oder zu bewerten ist, was unsoziales Verhalten ist etwa oder was ein erstrebenswertes Ziel ist, wie wir unsere knappen Ressourcen am sinnvollsten nutzen sollten usw., dann ist das nichts weiter, als ein Unterschied in Wahrnehmung und /oder Bewertung. Und: wir können trotzdem respektvoll, ja wohlwollend mit einander umgehen.

Kann ich aber dem anderen nicht mehr offen gegenüber treten, weil ich mich von ihm nicht gesehen, nicht ernst genommen, benutzt, hintergangen oder verraten fühle, dann haben wir mehr als eine unterschiedliche Sichtweise, mehr als eine Meinungsverschiedenheit. Jetzt können wir mit dem anderen nicht mehr nur über die Sache sprechen, ohne an der Wahrheit unserer Beziehung zu zweifeln, nein, jetzt zweifeln wir an der Echtheit unserer Beziehung und damit an der Aufrichtigkeit des anderen und an den Worten, die er sagt.

Wir beginnen zu glauben, dass der andere uns Böses will und die „Abwärtsspirale“ dreht sich, wir haben einen Konflikt.

Jetzt nach Ursache und Wirkung oder Schuld zu fragen, führt ins Leere. In sozialen Bezügen ist Kausalität zirkulär. Nur durch Interpunktion, wie Paul Watzlawick das nennt, kann Schuld zugewiesen werden. Interpunktion aber ist beliebig. Man könnte auch sagen:

Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!

Im Konflikt hilft nur, 1. Anzuerkennen was ist! und 2. Nach der Devise: „Probleme lösen, nicht Schuldige suchen!“ nach vorne zu schauen und den Weg zu suchen, der aus dem Dilemma herausführt.

Dazu ist nicht immer professionelle Unterstützung erforderlich aber meist doch sehr hilfreich.


Quelle: Josef W. Seifert, Konfliktmoderation, Gabal Verlag

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© 2020, Josef W. Seifert, MODERATIO

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Konfliktmoderation und die Sache mit der Angst

Es ist eine Stärke, den anderen so annehmen zu können wie er ist, auch wenn einem dieser mehr oder weniger komisch, seltsam oder befremdlich vorkommt. Den meisten Menschen fällt dies schwer, insbesondere, wenn es Spannungen gibt … 

Um Menschen in ihrer ganz persönlichen Art die Welt zu sehen, zu empfinden und zu gestalten, verstehen zu können, ist die Typologie des Münchner Psychologen Fritz Riemann sehr hilfreich. Dies besonders deshalb, weil sie mit nur vier Dimensionen auskommt und so ein alltagstaugliches Beobachtungsraster bereitstellt. Riemann nimmt als Kondensationskern für seine Persönlichkeitstypologie den Umgang mit der Angst, den jeder Mensch lernen muss.

Angst ist ein Gefühl, das der Mensch zum Überleben braucht. Er muss Gefahren als solche erkennen und durch (Flucht oder Verteidigung) darauf regieren können. Fritz Riemann teilt die Angst – die vom Menschsein nicht zu trennen ist – in vier „Grundformen der Angst“ ein. Dabei stehen sich immer zwei Grundformen gegenüber und bilden je ein Kontinuum, zu den Dimensionen „Raum“ und „Zeit“:

Dimension Raum

Aus dem Wunsch nach Nähe und Geborgenheit entsteht die Angst davor, von seiner sozialen Umwelt getrennt und sozial isoliert zu werden. Aus dem Wunsch selbst bestimmt und unabhängig zu sein entsteht die Angst, seine Freiheit einzubüßen und von den anderen vereinnahmt zu werden. Diese Ängste, zwischen Nähe und Distanz, bilden die Dimension „Raum“ ab.

Dimension Zeit

Aus der Neugierde und dem Wunsch nach Entdeckungen und Neuem entsteht die Angst vor Stillstand und Endgültigkeit. Dem Wunsch nach Sicherheit und Verlässlichkeit steht die Angst vor Unberechenbarkeit und Chaos gegenüber. Diese Ängste, zwischen Dauer und Wandel, bilden die Dimension „Zeit“ ab.

 

 

Abb.1: Die Dimensionen „Raum“ und „Zeit“

 

Menschentypen

Wir können davon ausgehen, dass jeder Mensch jede dieser Angstformen aus eigenem Erleben kennt. Jeder Mensch wird dabei – je nach seinem individuellen Gewordensein – die eine oder andere Grundform stärker kennen als die anderen Formen. Dies wird sein Leben, seinen Charakter, ganz zentral (mit)bestimmen. Dadurch, kann man (in Anlehnung an das „Riemann-Thomann-Modell“) auch von den vier Menschen“typen“, Nähe- und Distanz- sowie Wandel- und Dauertyp sprechen, wie dies Abbildung 1 symbolisch zeigt.

Dieses Typenquadrat® ist so wichtig, weil die Art wie jemand die Welt begreift, wie jemand empfindet und sein Leben organisiert, wie er/sie anderen begegnet, davon geprägt ist, wie jemand sich im Laufe seines Lebens in Raum und Zeit „verortet“ hat. Während für den einen Ordnung das halbe Leben ist, interessiert sich der andere mehr für die zweite Hälfte. Für diesen ist „kreatives Chaos“ wichtig … Das Verständnis für einander hält sich diesbezüglich möglicherweise in Grenzen und führt vielleicht auch zu wiederkehrenden Irritationen in der Zusammenarbeit, zu „Minitraumen“, die sich zu Spannungen aufbauen und einen fruchtbaren Boden für Konflikte ergeben. Im Konflikt hört man dann Aussagen, wie: „Wie kann man nur…!“, „Ich werde nie verstehen, wie man …“, „So ein Korinthenkacker.“, „Dieser Chaot!“, „“, „So ein arroganter Schnösel!“ usw. Im Konflikt werden die Konturen besonders scharf gezeichnet.

Was im Konflikt zunehmend verloren geht, ist das Verständnis für das Anderssein des anderen, das nicht besser und nicht schlechter ist, als die eigene Art. Konfliktparteien benutzen in ihrer eingeschränkten Wahrnehmungs- und Toleranzfähigkeit Extreme zur Verdeutlichung ihres eigenen Empfindens.

In der Konfliktmoderation gehört es zu den Aufgaben des Mediators, Verständnis für einander zu fördern. Dazu muss er die eine oder andere Aussage relativieren und/oder „übersetzten“. Möglich wird das dadurch, dass man jedem Wert, jeder Eigenschaft einen Gegenwert und einen Unwert zuordnen kann (vgl. Wertequadrat nach Hartmann).

DAUER versus WANDEL

Das Positive: Jemand ist exakt in seinen Angaben, genau in seinen Ausarbeitungen, im höchsten Maße korrekt und zuverlässig.

Übertreibt er diese Stärken, so kippt es und es kommt zum bekannten zuviel des Guten!



Alle Ding‘ sind Gift und nichts ohn‘ Gift; allein die Dosis macht,
dass ein Ding kein Gift ist.

Paracelsus



Für die Dauer-Strebung bedeutet das, dass Stärken, wie Genauigkeit, Ausdauer, Beständigkeit, Stabilität, Zuverlässigkeit bei Übertreibung zu destruktiver Zwanghaftigkeit, Sturheit und Prinzipienreiterei „entarten“.

Die Stärken des wandel-starken, wie Improvisationstalent, Begeisterungsfähigkeit, Kreativität und Erfindungsgeist verkommen zu Gewurstel, Schlamperei, Unordnung und Chaos.

NÄHE versus DISTANZ

Die menschliche Wärme des Nähe-Menschen, der kontaktfreudig und hilfsbereit ist, den Austausch sucht und gut zuhören kann, wird zu Aufdringlichkeit, Anbiedern und Tratscherei …

Der distanz-starke Kollege, bei dem man stets weiß, wie man dran ist, der nein sagt, wenn er nein meint, der sich durch Selbständigkeit, klaren Sachverstand und Entscheidungsstärke auszeichnet, wird zum Einzelgänger, Eigenbrötler und verschrobenen Sonderling, der kaum mehr zu erreichen ist, arrogant, sarkastisch und verletzend wirkt.

Im Konflikt werden die Konturen des Andersseins schärfer wahrgenommen und die Konfliktparteien sehen vor allem die „Unwerte“ der jeweiligen Orientierung des/der anderen besonders plastisch.

Die Moral von der Geschicht

Wenn die Konfliktparteien aus unterschiedlichen „Ecken des Quadrates“ argumentieren muss der Moderator „übersetzen“. Dazu ist es zunächst wichtig zu erkennen, welcher „Typ“ der einzelne ist, welche „Sprache der Gefühle“ er spricht. Man kann sich das so vorstellen, wie wenn zwei Menschen Dialekt sprechen, der eine spricht breitestes Bayerisch und die andere sächselt was das Zeug hält. Im Konfliktdialog wird aus dem Bayerischen Amerikanisch und aus Sächsisch wird Mandarin. Jeder der beiden versteht die Sprache des anderen bestenfalls rudimentär. Wenn er sich sehr bemüht kann er mehr erahnen als verstehen, was der andere meint.

„Heimatgebiete“ und Argumente

In Abwandlung des bekannten Bibelwortes „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen! (1. Johannes 2,1-6)“ gilt im Konfliktdialog: An ihren Worten werdet ihr sie erkennen!

NÄHE-Argumente:

Ich brauche …
… den Dialog mit andern.
… den Austausch mit andern.
… die Abstimmung mit andern.
… Teamarbeit.
… das Gefühl, nicht allein dazustehen mit meiner Meinung.

DISTANZ-Argumente:

Ich brauche …
… Zeit für mich ganz allein.
… eine gewisse Distanz.
… das Gefühl, dass ich eine eigene Meinung haben darf.

DAUER-Argumente: 

Ich brauche …
… Ordnung.
… das Gefühl, dass nicht alles, kaum ist es entschieden, sofort wieder umgeschmissen wird.
… verlässliche Zusagen.

WANDEL-Argumente:

Ich brauche …
… Bewegung
… Neues
… die Möglichkeit was auszuprobieren.
… das Gefühl, dass sich was bewegt.

Die Kunst besteht nun darin, das Gesagte z.B. mit Hilfe des „Doubelns“ (vgl. Seifert: Konfliktmoderation), in die Sprache des jeweils andern zu übersetzen: „Ich finde das blöd, wenn Du dauernd angeschissen kommst, um mit mir Banalitäten zu erörtern. Ich kann dieses Gequatsche nicht haben!“ klingt dann durch den Moderator übersetzt so: „Ich brauche Zeiten in denen ich ungestört arbeiten kann, sonst kriege ich keinen brauchbaren Arbeitsrhythmus für mich hin. Wenn Du unangemeldet kommst, fliege ich aus meinem Rhythmus.“

Wenn der Moderator in der Konfliktklärung oder in anderem Zusammenhang der Manager, die Führungskraft, der Projektleiter … es schafft, zu erkennen und anzuerkennen, dass andere in ihrem „inneren Typenquadrat“ anders verortet sind und dies nicht besser oder schlechter ist, als andere Wahrnehmungspräferenzen, sondern nur anders, dann gelingt es leichter erfolgreiche Gespräche zu führen und im Konfliktfall zu moderieren. 

Quelle: Josef W. Seifert – “Konfliktmoderation“ – Gabal Verlag, Offenbach


Inhalt der Ausbildung MODERATIO KonfliktModerator:in (MKM)

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10 ungewöhnliche Tipps zur Konfliktmoderation

– von Josef W. Seifert: 

Wer Konflikte klären soll, möchte oder muss, sollte sich die folgenden Grundsätze zu Herzen nehmen um sich und andere nicht zu ent-täuschen:

1. Dränge Dich nicht auf!

Für einen Berater oder Moderator macht es keinen Sinn, einen Konflikt lösen zu wollen, man könnte sagen: Wenn der Therapeut engagierter ist als der Klient wird das mit der Therapie nicht funktionieren. Die Verantwortung für einen Konflikt und dessen Lösung liegt bei den Konfliktparteien. Einzige Ausnahme ist die Führungssituation, hier ist der Manager, die Führungskraft, der Projektleiter verantwortlich dafür, dass ein Konflikt gelöst wird. Ein Vorgesetzter muss sich „aufdrängen“. Es gehört zu seinen zentralen Aufgaben, dafür zu sorgen, dass eine möglichst reibungslose Zusammenarbeit möglich ist. Er kann ein Konfliktgespräch im Rahmen einer Dienstbesprechung anordnen. In wieweit die beteiligten Menschen sich dann öffnen und bereit sind an einer Konfliktlösung zu arbeiten, liegt allerdings immer in deren Hand. Konfliktdialog und Konfliktlösung kann man nicht erzwingen.

2. Kläre Deine Rolle!

Für eine Konfliktbearbeitung ist die erste Frage die, ob es darum geht zu mediieren oder zu moderieren. Im einen Fall ist der Konflikt benannt und soll/kann nicht gelöst werden es geht jetzt darum die Sachfragen zu bearbeiten, die für eine Trennung zu klären sind. Das Stichwort dafür heißt „Verhandeln“, meist nach dem Harvard-Konzept. Im Falle einer Konfliktmoderation ist noch völlig offen, was ist und was werden soll. Es geht darum, zu klären worin der Konflikt besteht und darum, ob eine Lösung möglich ist und wie diese aussehen könnte.

3. Strebe keine Lösung an!

Gehen Sie davon aus, dass Sie als ModeratorIn weder den Konflikt lösen können noch lösen müssen. Ein Konflikt kann nur von den Konfliktparteien gelöst werden. Sie können lediglich Hilfestellung dafür leisten. Eine Konfliktlösung ist ein Abfallprodukt einer guten Konfliktklärung. Das Ziel einer Konfliktmoderation ist daher die Klärung der Situation: Was ist eigentlich los bei uns, worin konkret besteht der Konflikt?

4. Konzentriere Dich nicht auf die Vergangenheit!

Meist ist die Idee für eine Konfliktklärung die, das Rad irgendwie zurückzudrehen, so dass es „so wird, wie es mal war“. Es wird aber nie mehr so sein, wie es einmal war; bekanntermaßen kann man nur einmal in denselben Fluss steigen, so ein chinesisches Sprichwort. Ziel einer Konfliktmoderation kann es daher immer nur sein, eine mögliche Zukunft zu entwerfen. Und: Häufig kann ein Konflikt nur durch Trennung beendet werden. Die Suche nach „den“ Ursachen oder „dem“ Schuldigen führt in eine „Was war erst, die Henne oder das Ei – Diskussion“. Gehen Sie davon aus, dass Ursachen in sozialen Systemen zirkulär sind und die Frage nach der Schuld sinnlos ist.

5. Sei nicht neutral!

Nur wenn Sie nicht als Partei wahrgenommen werden, können Sie die Akzeptanz beider Seiten bekommen und bewahren. Trotzdem ist es erforderlich Fürsprecher sowohl der einen als auch der anderen Seite zu sein, aber eben beider Seiten. Nur dadurch ist es möglich maximal hilfreich zu sein und dennoch unparteiisch zu bleiben. Helfen Sie den Menschen, sich gegenseitig besser zu verstehen und das auf Gegenseitigkeit.

6. Glaube nicht, was Du hörst!

Seien Sie sich stets dessen bewusst dass das, was Peter über Paul sagt, mehr über Peter sagt, als über Paul und niemals „die Wahrheit“ ist. Wenn jemand etwas über jemanden anderen sagt ist die Frage stets: „Wieso sagt er/sie das ausgerechnet jetzt, auf gerade diese Art und Weise und wieso zu mir? Was will der Sprecher damit erreichen?“ Behandeln Sie Aussagen immer als mögliche Sicht der Dinge, niemals aber als Tatsachen.

7. Suche die Lösung nicht in der Sache!

Man kann über einen Sachverhalt unterschiedlicher Meinung sein. Man kann über das Ziel streiten und über die Strategie, über Mittel und Wege und darüber, ob eine Investition sinnvoll ist oder nicht. Die Frage ist einzig und allein die, ob man es zulassen kann, unterschiedlicher Meinung zu sein. Sobald der Streit über die Sache die Beziehung in Frage stellt, ist ein Konflikt entstanden – nur dann! Anders ausgedrückt könnte man sagen: Wenn die Beziehung stimmt, ist (fast) alles möglich, wenn die Beziehung nicht stimmt, ist (fast) nichts möglich.

8. Bestehe nicht auf Vereinbarungen!

Wenn ein Konflikt sich löst, hat das meist damit zu tun, dass seelische Kratzer, Narben und Wunden verheilen. Häufig ist es nicht erforderlich und/oder möglich, Maßnahmen zu vereinbaren. Wenn (mehr) Verständnis für einander entsteht und der Wille für ein neues/anderes Miteinander bekundet wird, lässt sich das in aller Regel nicht oder nur unzureichend in Maßnahmen abbilden. Was sich schriftlich fixieren lässt, damit es nicht vergessen wird, sollte natürlich unbedingt als „Vereinbarung“ oder „Maßnahme“ notiert werden.

9. Inszeniere keinen positiven Abschluss!

Ein Konflikt ist ein Konflikt, ist ein Konflikt, ist ein Konflikt. Auch wenn es am Ende einer Konfliktmoderation nach einer Lösung aussieht, sind Worte wie „Ich freue mich, dass …“ oder „Ich hoffe, dass …“ wenig hilfreich. Ob das neue Verständnis füreinander, der Wille zu einem besseren Miteinander, die getroffene Vereinbarung hält, wird die Zukunft zeigen. Am Ende einer Konfliktklärung ist eine kurze Relfexion der gemeinsam verbrachten Zeit und ein ehrlicher Dank an die Beteiligten angemessen und ausreichend.

10. Verzichte auf Nachsorge!

Die Verantwortung für den Konflikt und dessen Lösung liegt allein bei den Konfliktparteien. Man kann als ModeratorIn im Nachhinein nichts reparieren. Auch Nachfragen befördern keine Besserung. Wenn die Konfliktparteien erneut Hilfe wünschen und Vertrauen zu Ihnen und Ihren Fähigkeiten entstanden ist, werden sie sich melden – garantiert.

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Zur Vertiefung: Josef W. Seifert, Konfliktmoderation, GABAL Verlag


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