Angst macht Typen

– Die Grundformen der Angst, skizziert von Josef W. Seifert:

Um Menschen, über ihr Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit hinaus, in ihrer ganz persönlichen Art die Welt zu sehen, zu empfinden und zu gestalten, verstehen zu können, ist die Typologie von Fritz Riemann sehr hilfreich. Dies besonders deshalb, weil sie mit nur vier Dimensionen auskommt und so ein pragmatisches Beobachtungsraster bereitstellt.

Riemann nimmt als Kondensationskern für seine Persönlichkeitstypologie den Umgang mit der Angst, den jeder Mensch lernen muss. Angst ist ein Gefühl, das der Mensch zum Überleben braucht. Er muss Gefahren als solche erkennen und durch (Flucht oder Verteidigung) darauf regieren. Fritz Riemann teilt die Angst – die vom Menschsein nicht zu trennen ist – in vier „Grundformen der Angst“ ein. Dabei stehen sich immer zwei Grundformen gegenüber und bilden je ein Kontinuum, zu den Dimensionen „Raum“ und „Zeit“:

 

 

Grundformen der Angst

Dimension Raum: Jeder Mensch hat den Wunsch nach Nähe und Geborgenheit, nach körperlicher und seelischer Sicherheit. Jeder strebt danach, gesehen zu werden, anerkannt und angenommen zu werden, dazuzugehören. Doch wie nah ist nah genug? Im Idealfall, sind wir mit dem andern eins, wie Mutter und Kind. Das ist selbst Liebenden nicht möglich – jeder ist ein Individuum und jeder bleibt „allein“. Der Wunsch nach Nähe erzeugt natürlich die Angst vor Distanz, vor Abstand, vor Alleinsein, ohne Hilfe und Unterstützung, schutzlos auf sich allein gestellt zu sein. Nicht gemocht zu werden, nicht akzeptiert und angenommen zu werden, von seiner sozialen Umwelt getrennt und sozial isoliert zu werden.

Aber auch das Gegenteil ist richtig: Jeder Mensch hat den Wunsch nach Distanz, nach Autonomie. Jeder würde gerne – im Idealfalle, ohne auf irgendetwas Rücksicht nehmen zu müssen – tun und lassen, was ihm gefällt. Sich keinen Ansprüchen anderer stellen zu müssen, keine Kompromisse machen müssen. „Frei“ zu sein, das ist etwas, was in jedem Menschen angelegt ist. Der Wunsch nach Autonomie aber erzeugt die Angst davor, Freiräume einzubüßen, von anderen vereinnahmt zu werden, fremdbestimmt und vielleicht sogar übervorteilt zu werden, im Leben mit seinen Bedürfnissen „zu kurz“ zu kommen.

Jeder Mensch kennt diese Strebungen und die damit einhergehenden Ängste. Der eine mehr von der einen Art, die andere mehr von der andern. Jeder entwickelt seine Art damit umzugehen. Jeder muss die für sich richtige Balance zwischen Nähe und Distanz finden.

Dimension Zeit: Jeder Mensch hat den Wunsch nach Entdeckungen und Neuem, nach Abwechslung und Abenteuer. Die Welt soll bunt sein und interessant, Überraschungen bereithalten, Angebote machen, immer wieder den Reiz des Neuen bieten. Das Leben soll ein Feuerwerk an Interessantem sein, ein Markt für Erfahrungen, für Anregungen und Lustgewinn. Der Wunsch nach Wandel ist verbunden mit der Angst vor Einerlei und Langeweile, vor Stillstand, Wiederholung und Rückschritt, vor Normen, Routinen und Standards.

Aber auch das Gegenteil gilt: Jeder Mensch hat den Wunsch nach Ruhe und Erholung, nach Beständigkeit und Vertrautem. Jeder wünscht sich Überschaubarkeit und Vorhersagbarkeit, Zuverlässigkeit und Sicherheit. Alles soll so bleiben, wie es ist, dann hat man alles leichter im Griff. Man will vor „unliebsamen Überraschungen“ sicher sein und wissen, was auf einen zu kommt. Bekanntes Gelände ist leichter zu bewältigen, als unbekanntes, neues. Das Rad nicht jedes Mal neu erfinden zu müssen, erleichtert das Leben sehr. Gesetzte, Vorschriften, Routinen, Normen bewahren einen vor ständiger Überforderung.

Jeder Mensch kennt diese Sehnsüchte und die damit einhergehenden Ängste. Jeder auf seine individuelle Art. Jeder entwickelt seine ganz spezifische Art damit umzugehen. Jeder muss die für sich richtige Balance zwischen Wandel und Dauer finden.

Menschentypen

Wir können davon ausgehen, dass jeder Mensch jede der skizzierten Angstformen aus eigenem Erleben kennt. Jeder Mensch wird dabei – je nach seinem individuellen Gewordensein – die eine oder andere Grundform stärker kennen als die anderen Formen. Und: Jeder wird sich in „Zeit“ und „Raum“ seinen Platz auf der Skala gesucht haben.

Weil das so ist, kann man (in Anlehnung an Riemann) auch von vier Menschen“typen“ sprechen: dem „Nähetyp“, dem „Distanztyp“, dem „Wandeltyp“ und dem „Dauertyp“, wie dies die Abbildung oben zeigt. In anderem Zusammenhang werden diese Strebungen auch als „Manager“ (Distanz), „Broker“ (Nähe), „Creator“ (Wandel) und „Owner“ (Dauer) bezeichnet, um die Stärken unterschiedlicher Persönlichkeitsausprägungen zu verdeutlichen. Aber Achtung, die Reinform gibt es nicht. Jeder Mensch ist – mehr oder weniger – jeder „Typ“! Jeder wird lediglich sowohl auf der Raumachse als auch auf der Zeitachse (ein bisschen) mehr der eine als der andere Typ sein. Dies allerdings wird sein Leben, seinen Charakter, ganz zentral (mit)bestimmen.

Die Moral von der Geschicht‘

Wenn wir einander verstehen wollen, geht das nur indem wir uns einerseits bewusst sind, dass Menschen (fast) alles tun, um dazugehören zu dürfen und andererseits jeder einen indivuduellen Bezugspunkt hat die Welt zu sehen, zu fühlen, zu erleben und nur aus dieser Position heraus argumentieren und handeln kann. Jeder kann Dinge nur aus der eigenen subjektiven „Mitte“ heraus für richtig oder falsch halten, für wahr oder unwahr, Menschen zum jeweiligen Thema und auch emotional näher sein als anderen.

Wenn wir anerkennen, dass das so ist und bereit sind, herauszufinden wo sich der andere „verortet“ hat, aus welcher Position heraus er oder sie argumentiert um schließlich sagen zu können: „Dass Du das so siehts, versteh ich gut.“, dann können wir – immer wieder neu – den Spagat hinbekommen, einander zu verstehen und vielleicht eine gemeinsamne dritte Position zu finden.

Wenn wir anerkennen, dass das so ist und bereit sind, herauszufinden wo sich der andere „verortet“ hat, aus welcher Position heraus er oder sie argumentiert um schließlich sagen zu können: „Dass Du das so siehts, versteh ich gut.“, dann können wir – immer wieder neu – den Spagat hinbekommen, einander zu verstehen… Dieses Verstehen kann dann die Basis für wahre Begegnung und ein nährendes Miteinander.

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Auszug aus: Seifert, Josef W. – „Konfliktmoderation“ – Gabal Verlag, Offenbach

Bestandteil der Ausbildung: MODERATIO KonfliktModerator:in (MKM)


© MODERATIO 2024

Jeder besitzt ein Schneckenhaus

Ein Beitrag von Josef W. Seifert –

In der Konfliktmoderation bekommen wir es einerseits damit zu tun, dass nun mal jeder „seine Art“ hat und der andere oft nicht verstehen – und vor allem nicht nachfühlen – kann, wieso der eine sich so und nicht anders verhält; aus welchem Grund jemandem dieses oder jenes so wichtig ist, wie der andere „tickt“. Und andererseits auch damit, dass „rote Knöpfe“ gedrückt wurden. Im folgenden möchte ich einige Gedanken hierzu anbieten und dazu ermutigen, im Beratungsprozess zur Konfliktklärung, nicht an der Oberfläche zu bleiben…

Samuel Widmer´s Kern-Schalen-Modell

Der Mensch kommt als absolut unschuldiges, lebensbejahendes, völlig schutzloses, auf Überleben programmiertes Wesen auf die Welt. Er braucht von Anfang an Nahrung und Pflege, Wärme und Zuwendung kurz: „die Andern“. Im Laufe des Heranwachsens erlebt der kleine Mensch, dass diese andern, in der Regel die Eltern, ganz im Gegensatz zu ihm selbst, scheinbar „alles können“, „alles wissen“ und „alles dürfen“. Er erlebt sich selbst zwangsläufig als klein und abhängig, wenig/er potent und weniger wert.

Dieses Erleben des eigenen Unvermögens, der eigenen „Minderwertigkeit“ und der Abhängigkeit vom Wohlwollen der andern gräbt sich so tief in sein Gedächtnis und in seine Seele, dass es nie mehr völlig verblassen wird. Je nach persönlicher Situation und individueller Verarbeitung, bleibt ein mehr oder weniger tiefes, diffuses Minderwertgefühl und Wissen um die Abhängigkeit von „den Andern“. Alfred Adler spricht in diesem Zusammenhang davon, dass der erwachsene Mensch zudem seine Bedeutungslosigkeit im kosmischen Zusammenhang begreift, seine Kleinheit, Begrenztheit und Ohnmacht und dieses Wissen das Minderwertgefühl verstärkt. Zur Kompensation streben wir danach, einen „sicheren Platz“ im Leben zu erreichen und zu wissen, dass wir für lebenswert und liebenswert gehalten werden, dass wir „dazu gehören“ und uns „nichts mehr passieren“ kann, was freilich eine Fiktion bleiben muss.

Erschwerend kommt hinzu dass, wie umsichtig und wohlwollend Eltern, Erzieher, Lehrer, Freunde usw. auch immer sein mögen, wie intensiv das Bemühen um Zuwendung und Wertschätzung auch ausfällt, niemand vor Geboten und Verboten, Beschränkungen und Strafen, Ungerechtigkeit und Ohnmacht bewahrt werden kann.

Jeder Mensch wird im Laufe des Erwachsenwerdens Misserfolg, Zurückweisung, Enttäuschung, Einsamkeit und Schmerz erleben und Verletzungen der Seele zurückbehalten, die dann zum einen Teil „vernarben“ und zum andern Teil „sensible Stellen“ bleiben. Zum Teil werden diese Ereignisse vergessen, zum Teil verdrängt, zum Teil ein Leben lang erinnert.

Wir speichern aber nicht nur den Schmerz ab, den wir in der entsprechenden Situation erleiden mussten, sondern auch den Kontext, das Ganze „Drumherum“. Vielleicht den Ort, das Wetter, den Geruch, die Stimmen, Geräusche, die Stimmung. Das führt dazu, dass alte Gefühle auch dadurch wachgerufen werden können, dass wir an etwas erinnert werden, das wir im Zusammenhang abgespeichert haben. Man kann sich das vorstellen, wie den „Bohnerwachseffekt“. Man betritt einen Raum und es riecht nach Bohnerwachs: Schlagartig wird die Erinnerung wach, die wir damit verknüpfen. Man steht plötzlich im Klassenzimmer der Grundschule … Einen ähnlichen Effekt können Geräusche, Gesten, Worte haben.

Jeder von uns hat solche „Erinnerungsknöpfe“ die, einmal gedrückt, in Sekundenbruchteilen die Gefühlswelt einer vergangenen Zeit auferstehen lassen. Und es gibt neben den goldenen Knöpfen, die an gute Erinnerungen anknüpfen, eben auch rote Knöpfe, auf die niemand drücken darf, weil dadurch der alte Schmerz in Erinnerung gerufen würde.

Davor, dass jemand so einen roten „Weh-Knopf“ drückt, versuchen wir uns dadurch zu schützen, dass wir „Sicherungsschichten“ darum aufbauen. Wir tragen quasi einen hautengen, hautfarbenen Schutzanzug, der den anderen gar nicht auffällt und sie glauben lässt, sie würden uns ganz echt und authentisch sehen, ganz so, wie wir sind. In Wirklichkeit sehen sie nur das, was wir glauben zeigen zu sollen und nur das, was wir zeigen wollen (Anpassung). Von außen sieht man nur diese „öffentliche Person“. Unter diesem Schutzanzug tragen wir – für den Fall, dass uns jemand zu nahe kommt – ein Kettenhemd (Abwehr). Erst darunter liegt unsere empfindsame echte Haut (Schmerz) mit ihren Kratzern und Narben, die nicht berührt werden sollen. Diese wirkliche Haut umgibt und schützt das Innerste, unseren weichen Kern.

Wenn jemand sagt: „Das hat mich bis ins Mark getroffen!“, so meint er damit, das hat mein Innerstes berührt, das hat mich durch mehrere Schichten hindurch, tief verletzt, das hat meinen Kern getroffen.

Das hat meine Anpassungsschicht durchschlagen, meine Abwehr überwunden und meine, den Wesenskern umgebende Schmerzschicht erreicht.

Die Schichten kurz und bündig

Anpassungsschicht
Die äußerste Schicht ist die Alltagsschicht. Wir zeigen uns auf unsere individuelle Weise, mit den für uns typischen Charaktereigenschaften, die jeder sehen kann. Wir zeigen die Verhaltensweisen, mit denen wir erfahrungsgemäß gut durchs Leben kommen.

Abwehrschicht
Wir aktivieren Abwehrgefühle, wenn die Gefahr droht, dass jemand einen roten Knopf drückt oder jemand versehentlich einen gedrückt hat. Wir schützen uns durch Unverständnis, Überheblichkeit, Wut, Empörung, Anklagen usw. davor, jemanden zu nah an uns heranzulassen, weil Nähe immer auch Verletzlichkeit bedeutet. Im Konflikt agieren wir mit unserem Verhaltensrepertoire aus dieser Schicht.

Wehschicht
Hier sind die Verletzungen, die seelischen Kratzer, Narben und Wunden, von denen schon die Rede war, versteckt. Wir versuchen sie zu schützen, so gut es geht. Die „alten Sachen“ sollen möglichst nicht wieder hochkommen, nicht wieder (voll) bewusst und vor allem nicht noch einmal gespürt werden müssen.

Kern
Im Kern ist „das Auge des Orkans“, hier ist es ganz still, absolute Ruhe. Kein Argwohn, kein Neid, keine Angst. Ein Raum, den man nur für kurze Zeit betreten kann, vielleicht in einem Moment tiefster Entspannung, wenn man ganz „im Flow“ ist oder im tiefsten Glück, in Momenten der Erleuchtung.

 

Abb. – „Kern-Schalen-Modell“ nach Samuel Widmer

 

Konfliktmoderation

Im Konfliktdialog geht es prinzipiell darum, die „Hidden Feelings“, die verdeckten, verletzten Gefühle aufzudecken und besprechbar zu machen, die dem Konflikt Nahrung geben. Diese liegen in der Schmerzschicht und sind nicht offensichtlich.

Was die Konfliktparteien freiwillig zeigen, ist die angepasste „Alltagsschicht“ oder die aggressive „Abwehrschicht“, nicht aber die verletzen Stellen. Sie wehren sich dagegen, den Schmerz zuzulassen, indem sie um den Konflikt herum reden: „Nein nein, wir kommen im Prinzip schon ganz gut klar.“ (Anpassung) oder den andern anklagen: „Nein, mit Dir kann man nicht klar kommen, keiner kommt länger mit Dir aus!“ (Abwehr).

Diese Äußerungen sind „Türsteher der Schmerzschicht“, abwehrende Gefühle, die verhindern sollen, dass wir die Gefühle, die wir nicht haben wollen, nämlich die Schmerzen, spüren. Abwehrende Gefühle, wie Wut, Enttäuschung, Verachtung, geben dem einen Schuld und sprechen den anderen frei. Sie schaffen Ungleichheit und Distanz und entlasten den Sprecher vordergründig. Da sie aber verhindern, dass der Schmerz ausgesprochen und gefühlt wird, da er nicht offengelegt wird, kann er auch nicht bearbeitet werden.

In der Rolle des Moderators in der Konfliktklärung muss man sich klar darüber sein, dass aggressives Verhalten, wie etwa Ausweichen, Sarkasmus und Wut aus der Abwehrschicht kommen. Jemand hat bei einem anderen (wiederholt?) einen „roten Knopf gedrückt“ oder jemand hat Angst, dass bei ihm eine „sensible Stelle“ berührt werden könnte. Hat man das Gefühl, dass „Abwehr-Ping-pong“ gespielt wird und die Menschen es nicht schaffen, über ihre verletzen Gefühle zu sprechen, kann und sollte man dies über die Kommunikations- und Moderationstechniken „Fragen“, „Zuhören“, „Feedback“ und „Doubeln“ ansprechen und den Kontrahenten Gelegenheit geben, tiefer zu kommen.

Im Kern geht es letztlich immer darum, nicht für liebenswert – oder gar lebenswert – erachtet worden zu sein. Es geht um „die Würde des Menschen“. Die Verletzungen dieses „letzten Prinzips“ können sehr leicht sein, aber auch krass und sie können durch direkte Einwirkung aber auch dadurch entstanden sein, dass jemand (versehentlich) einen „roten Knopf“ gedrückt hat.

Der Weg dorthin führt über Formulierungen, die der Moderator einsetzen kann, wie: Ich fühle mich nicht gesehen, nicht geliebt, nicht gewürdigt, missverstanden, hängen gelassen, ungerecht behandelt, ausgestoßen, gedrängt, ausgegrenzt, ausgenutzt, verachtet, verletzt, beschämt, nicht gesehen, nicht gewürdigt, ohne Kontakt zu Dir.

Dabei geht es in der Konfliktklärung nicht darum zu ergründen, wieso jemand an dieser oder jener Stelle einen „roten Knopf“ hat, das wäre therapeutische Arbeit, sondern einzig darum, Verletzungen aufzudecken, besprechbar zu machen und wenn möglich, einen adäquaten Umgang damit zu (er)finden. Was im Einzelfall besprochen werden kann und besprochen werden soll, entscheiden die Betroffenen immer eigenverantwortlich für sich. Jeder besitzt ein Schneckenhaus und dahin muss er sich auch zurückziehen dürfen und Vorsicht: vielleicht hat es ja einen roten Klingelknopf…

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© Auszug aus: Seifert, Josef W. – „Konfliktmoderation“ – Gabal Verlag, Offenbach


PS: Die Ausbildung zum Buch: http://MKM.moderatio.com

Der Konflikt ist rund.

Kausalität ist im sozialen Konflikt stets zirkulär. Im Streit, gleicht die Frage nach der Schuld dem Versuch, in einem Kreis den Anfang oder das Ende zu finden, aber das gibt es nicht. Wer glaubt den Anfang zu kennen, hat diesen nicht ge-funden, sondern er-funden. In streitigen Fragen bleibt immer die Frage, was zuerst war, die Henne oder das Ei, die nicht entscheidbar ist. Macht man im Konflikt einen Schuldigen aus, so ist das eine subjektive Setzung, eine Schuld-Zuweisung, ein Alibi. Der Versuch, mit Begriffen, wie „gut“ und „böse“, „richtig“ und „falsch“, „Schuld“ und „Unschuld“… zu arbeiten, ist weder klug noch zielführend.

Rolle gut und böse, richtig und falsch zu einer einzigen Kugel, wickle sie in Papier, und wirf sie weg. [nach Bankei Eitaku] 


Der einzige Weg,

der aus einem Konflikt führen kann ist der, zunächst anzuerkennen, was ist. Die schwierigste Übung dürfte dabei der Verzicht auf Wertung sein, der Verzicht darauf im Besitz der einzig legitimen Sichtweise zu sein. Anzuerkennen was ist, bedeutet auch anzuerkennen, dass die andere Seite eine Sicht auf die Dinge hat, die ganz offensichtlich – aus welchen Gründen auch immer – ebenfalls möglich ist. Es bestehen unterschiedliche Wahrnehmungen, Vermutungen, Bewertungen, Wünsche, Ziele… Erst wenn es gelingt, dies als legitim und gleich-wertig anzunehmen ohne sich innerlich dagegen aufzulehnen, kann ein zweiter Schritt gelingen.

Die Kunst besteht darin, etwas als gegeben zu akzeptieren, auch wenn man es möglicherweise gar nicht gut heißt, ohne dagegen zu opponieren. 

Ich freue mich, wenn es regnet, weil wenn ich mich nicht freue, regnet es auch. [Karl Valentin]

Ist ein Anerkennen erreicht, ist es ein Katzensprung zum Modus Vivendi, einem „erträglichen Zusammenleben“, dessen Ausformulierung man als Minimalziel einer Konfliktklärung betrachten könnte. Jetzt kann gefragt werden: Was machen wir denn nun, wenn es nun mal so ist, wie es ist? Welche Optionen haben wir? Was ist denk-bar? Was ist mach-bar?  Was wollen wir jetzt, konkret wie versuchen? Wie organisieren wir unser zukünftiges Mit-einander?

Oder, um es mit Willy Brandt zu sagen, das Ziel ist es, „über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen.“

Gut gebrüllt Löwe,

sagt Shakespeare im Sommernachtstraum und meint, leichter gesagt als getan oder: Wie soll das gehen? Wie sollen Konfliktparteien dahin kommen, das anzuerkennen was ist, obwohl sie exakt das gar nicht haben wollen? 

Im Businesskontext, konkreter im Kontext von Führung, Team-Performance und New Work, kann der Teamleiter als Moderator oder Facilitator helfen, diese „Konfliktlösungsbasis“ dadurch zu erreichen, dass er einen sehr verbreiteten Denkfehler klärt:

Der Denkfehler besteht darin, dass Menschen meist davon ausgehen dass, etwas als gegeben anzuerkennen, gleichbedeutend ist mit Zustimmung: Wenn es regnet, kann ich diese Tatsache zwar leugnen und so tun, als ob es nicht so wäre, regnen wird es trotzdem. Wenn ich anerkenne, dass es regnet, heißt das nicht, dass ich ich das auch gut finde und, um nochmal Karl Valentin zu bemühen, mich auch freue. Im Businesskontext: Wenn jemand einen anderen kritisiert weil dieser, seiner Meinung nach, Vereinbarungen nicht einhält, kann der Kritisierte anerkennen, dass der andere das so sieht, ohne ihm zuzustimmen. Wahrnehmung und Bewertung sind zwei, zeitlich auf einander folgende, Dinge. Anerkennen könnte also etwa so lauten: „Ich weiß, dass Du das so siehst, Deiner Meinung nach halte ich Vereinbarungen nicht ein. Ich sehe, dass Du das so siehst, das ist Dein gutes Recht.“ Im Idealfall vielleicht sogar mit dem Zusatz: „Ich kann verstehen, dass Du das so siehst.“

Anzuerkennen was ist, ist keine „gute Tat“, kein Eingeständnis einer Schwäche, kein Nachgeben, sondern schlicht die Anerkennung der Tatsache, dass man nicht im Besitz der Wahrheit ist.  

Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. [Heinz von Förster]


Der Konflikt ist rund.

Ein Konflikt ist ein Teufelskreis: Handlungen – aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Interpretationen geboren – ergänzen sich so, dass die Situation immer schlimmer wird. Beide Seiten sind davon überzeugt, recht zu haben. Beide Seiten re-agieren auf den jeweils anderen, die Negativspirale dreht sich…

Für professionelle Konfliktmoderation muss man daher in der Lage sein, eine „allparteiliche“ Haltung einzunehmen und, um es in einem Bild zu sagen: schwarz und weiß gleich-wertig zu behandeln. Damit dies gelingen kann, bedarf es der festen Überzeugung, dass es ‚gut‘ und ‚böse‘, ‚richtig‘ und ‚falsch‘ , ‚faktisch‘ und ‚objektiv‘, gar nicht gibt. Jede Sichtweise ist eine mögliche Sichtweise, jede Meinung ist eine gültige Meinung, jeder Beitrag ist ernst zu nehmen. Nur aus diesem Verständnis heraus, kann eine bedingungslos wohlwollende Haltung entstehen, die es den Menschen ermöglicht, sich zu öffnen und sich aufrichtig einzubringen.

„Alles kann einem Menschen genommen werden, nur eines nicht: die Wahl der eigenen Haltung in der gegebenen Situation und die Wahl der Handlung.“ [Viktor Frankl]

 

Ihr /Euer /Dein
josef w. seifert

© 2024, Josef W. Seifert, MODERATIO